Wie in meinem neuen Sachbuch über Nerven- und Rückenmarksregeneration (s. Kap. 2.4.8) erläutert, lassen sich mit der epiduralen elektrischen Stimulation (EES) die im Zusammenhang mit einem Querschnitt auftretenden chronischen Schmerzsyndrome behandeln. In manchen experimentellen Ansätzen sind darüber hinaus Verbesserungen der Somatomotorik und der Harnblasen-Kontrolle beobachtet worden. Besonders profitieren Patienten von einer elektischen Stimulationsbehandlung, wenn gleichzeitig rehabilitative Maßnahmen durchgeführt werden.
In einer 2022 in Nature Medicine publizierten Studie aus dem Labor von Grégoire Courtine, der an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) zusammen mit Jocelyne Bloch das Labor NeuroRestore leitet, ist nun erstmals gezeigt worden, dass auch über direkte Stimulation der mit dem lumbalen Rückenmark verbundenen Nerven definierte Schrittabfolgen wiederhergestellt werden können. Dabei wurden durch eine EES sensible (afferente) Hinterwurzelfasern im Bereich ihres Eingangs in das Rückenmark elektrisch stimuliert und in der Folge die motorischen Neurone im Vorderhorn des dazugehörigen Rückenmarkssegmentes aktiviert. Die gezielte Stimulation einzelner dorsaler Wurzeln ermöglichte somit eine Modulation spezifischer Ensembles von motorischen Nervenzellen. Damit wird im Unterschied zur kontinuierlichen EES ihr natürliches, räumlich-zeitliches Aktivierungsmuster beim Gehen reproduziert.
Zu diesem Zweck entwickelten die Autoren eine flächenhafte, sog. Paddle-Elektrode, die über eine spezielle Anordnung von mehreren kleinen Elektroden vorher identifizierte Wurzelnerven verschiedener Segmente stimulieren kann. In Verbindung mit einem computergestützten System, das hochauflösende strukturelle und funktionelle Bildgebung kombiniert, wurde die chirurgische Platzierung der Elektrode optimiert und über eigens entwickelte Software ein komplexes Stimulationsprogramm konfiguriert.
Mit dieser biomimetischen EES-Methode konnten neben dem Stehen und Gehen auch das Radfahren, Schwimmen und die Rumpfkontrolle innerhalb eines Tages bei drei Personen mit chronischer und vollständiger Querschnittslähmung ermöglicht werden. Verantwortlich für diese im Vergleich zu früheren Studien dramatisch gesteigerte Wirksamkeit war die spezielle Elektrodenanordnung, die auf die sakralen, lumbalen und unteren thorakalen Hinterwurzeln abzielte.
Obwohl die drei Teilnehmer der Studie sich selbständig fortbewegen konnten, erlangten sie ihre natürlichen Bewegungen nicht zurück. Allerdings war es zwei Probanden möglich, ihre Beinbewegungen auch während der EES zu modulieren, was darauf hindeutet, dass die Stimulation noch vorhandene Signale aus verbliebenen absteigenden Bahnen verstärkte. Im Zuge der Neurorehabilitation war eine willkürliche Muskelaktivierung auch ohne EES nachweisbar, so dass tatsächlich von einer Plastizität noch intakter Rückenmarksbahnen für diese Erholung verantwortlich zu sein scheint.
Die Autoren der Studie hatten schon früher gezeigt, dass eine Neurorehabilitation mit Hilfe von EES eine neurologische Erholung nach einer inkompletten Schädel-Hirn-Verletzung ermöglicht. Es ist daher davon auszugehen, dass durch die zukünftige Entwicklung einer auf den Patienten maßgeschneiderten Neurotechnologie die dorsalen Wurzelnerven des Rückenmarks auf allen Ebenen der Neuraxis stimuliert werden können, um neben den Rumpf- und Beinbewegungen auch die Arm- oder Handmotorik sowie bei Bedarf Blasen-/Darmfunktionen und die Hämodynamik positiv zu beeinflussen.
Referenz:
Rowald A, Komi S, Demesmaeker R, ..., Bloch J, Courtine G (2022) Activity-dependent spinal cord neuromodulation rapidly restores trunk and leg motor functions after complete paralysis. Nature Medicine 28:260
Bildnachweis: iStock/myboxpra
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